Gastbeitrag: Unternehmen scheitern nicht an der Marktdynamik
In unserem aktuellen Berliner „Facilitating Change“-Ausbildungsjahrgang fand im Modul 3 ein anregendes Gespräch zum Thema Rollen und Rängen und den damit verbundenen Zugängen zu Ressourchen und Privilegien in Organisationen statt. Dadurch inspiriert, hat Teilnehmer Andreas Jobmann folgenden Artikel geschrieben, der auf diese Aspekte eingeht. Diesen tollen Artikel möchten wir hiermit gerne mit Euch teilen:
Unternehmen scheitern nicht an der Marktdynamik, sondern an ihrer unreflektierten Vergangenheit
„In a nutshell“: Es gibt sicherlich verschiedenste Ansätze für die Betrachtung von Transformation. Aus meiner Perspektive liegt die Basis für nachhaltiges Gelingen darin, Vorgriffsrechte auf Ressourcen im Sinne der Sache zu ordnen, anhängige Privilegien anzupassen und das Verständnis von Rängen und Rollen substantiell zu adaptieren.
Wo wir stehen: Die meisten Unternehmen haben naturgemäß im Laufe der Zeit Strukturen aufgebaut und Prozesse etabliert, die im Rahmen ihrer Aufgabenstellungen für reibungslose Abläufe ihrer Geschäftstätigkeiten sorgen. Nicht selten sind dies gewachsene Konstrukte, die den zunehmenden Arbeitsumfang aufnehmen und ausführen können. Ausdruck findet dies oftmals in Form von dokumentierten Rollen und Verantwortlichkeiten, die sich wiederum in Hierarchien, Funktionen und Befugnissen spiegeln. Dieses Denkmodell funktioniert ganz wunderbar in linearen Umgebungen, die auf Vorhersehbarkeit und Planbarkeit basieren. Jedoch können diese gewachsenen Konstrukte den Ansprüchen zunehmender Komplexität und Dynamik nicht ausreichend begegnen, denn die Hierarchie-, Funktions- und Befugnis-Zuordnungen sind auf Skalierung des bestehenden getrimmt und nicht auf Flexibilität. Bei zunehmender Unvorhersehbarkeit und permanenter Veränderungsdynamik können sie daher keine nachhaltige Wirksamkeit mehr erzeugen und die gedachte Steuerungsfähigkeit nimmt ab. Die Folge ist meist eine Zunahme effizienzgetriebener Aktivitäten, übertriebener Kontrollwahn und (noch) mehr vom gleichen Problem.
Was nun hilft, als eine Art Erstversorgung, ist die Akzeptanz dieser Realität.
Etwas tiefer reingeschaut: Strukturen, Hierarchien und Funktionen, oder anders ausgedrückt Ränge und Rollen, sind stets formalen und informellen Privilegien zugeordnet. Diese anhängigen Privilegien organisieren die Zugänge und die Vorgriffsrechte auf Unternehmensressourcen. Die Art und der Umfang dieser Zuordnungen sind meist ein organisch gewachsener Prozess. Ressourcen können Informationen, Entscheidungswege, Budgets, Mitarbeitereinsatz, Strategien, Prozesse usw. sein. Je höher und je bedeutender ein Rang oder eine Rolle ausgestaltet ist, desto akzeptierter gestalten sich Vorrechte auf Unternehmensressourcen, wie z.B. Entscheidungsbefungnisse. Budgetzugriff, … Inzwischen etablieren sich Ränge und Rollen innerhalb einer Organisation nicht nur aus struktureller, sondern auch aus sozialer und psychologischer Wahrnehmung heraus und schaffen somit weitere zum Teil unbewusste Privilegien. Zum Beispiel: Wer wird in Konflikten angesprochen, wer hat das Vertrauen für „heiße“ Themen, wer hat unabhängig von der Hierarchie Einfluss? Hieraus ergibt sich ein Privilegien-Mechanismus auf verschiedensten Ebenen, der auf die vorhandenen Unternehmensressourcen einwirkt und für Dynamik sorgt.
Wie es sich oftmals zeigt: Die persönliche Ausgestaltung von Rängen und Rollen im Umgang mit Privilegien sind oft nicht transparent und dynamisieren, insbesondere bei Veränderungsanliegen, zusätzlich das Geschehen. In Zeiten stetiger Unruhe lähmen unreflektiertes und gewohnheitsmäßiges Festhalten an Privilegien die Zukunftsfähigkeit von Organisationen. Eine Transformation wird behindert, da sie eine thematisch getriebene Zuordnung von Neuen bzw. eine Umverteilung der bestehenden Privilegien voraussetzt.
Wie typischerweise reagiert wird: Nicht selten wird versucht, diesen Zustand durch die Etablierung neuer Rollen aufzulösen. Doch gerade bei neugeschaffenen Positionen oder Verantwortlichkeiten zeigt sich, dass die Anschlussfähigkeit ohne Reorganisation bestehender Privilegien fehlschlägt. Deutlich wird es, wenn aus Führungskräften Coaches oder Mentoren werden sollen, aus Projektleitern Product-Owner oder Kunden zu einer Anspruchsgruppe werden etc. Jede dieser Rollen ist methodisch betrachtet mit existierenden Privilegien ausgestaltet. Eine additive Einführung von neuen Rollen bzw. die lineare Übertragung von Privilegien macht jedoch wenig Sinn, wenn nicht zeitgleich bestehende Vorrechte aus Rängen und Rollen proaktiv angepasst werden. Es erzeugt Unglaubwürdigkeit im Umfeld und erhöht das Konfliktpotenzial. Echte Veränderungskraft wird hierdurch schlicht unterbunden. Tatsächlich löst dies nur Schmerz und Verwirrung aus.
Wie wir es betrachten könnten: Zukunftsfähigkeit entsteht durch eine reflektierte und wiederkehrende Reorganisation benötigter Vorrechte, die einem gemeinsamen Verständnis in der Sache folgt. Fokus sollte es dabei sein, entstandenen Selbstzweck aus Hierarchien, Rollen und Funktionen im Rahmen gemeinsam definierter Grenzen abzubauen und die Umverteilung von Privilegien zu fördern. Der Anspruch an die Neuverteilung der Privilegien ist die permanente Weiterentwicklung der Netzwerke, eine breitere Übernahme von systemrelevanter Verantwortung, sowie der Ausbau individueller Fähigkeiten. Der Umgang jedes Einzelnen mit neuen Möglichkeiten auf neuen Spielwiesen führt durch ernsthafte Kooperation zu exponentieller Entwicklung unternehmerischer Innovations- und Transformationskraft.
Was auf den Tisch muss: Bei aktueller Marktdynamik braucht es unzensiertes Hinterfragen des Status Quo und nicht zwingend eine Reform der Aufbauorganisation. Es braucht eine Reform des Verständnisses. „Nomen est omen“ gilt so nicht mehr. Und wenn kein Raum für das Hinterfragen geschafften wird, kommen wir auch nicht an des Pudels Kern. Es ist auch Zeitverschwendung, existierenden Rollen neue Namen zu geben oder kontextlose Methoden einzuüben. Es ist primär notwendig, veränderte Anforderungen für den Zugriff auf Unternehmensressourcen zu erkennen, zu reflektieren und zu adaptieren. Und das setzt voraus, dass sowohl losgelassen als auch zugepackt wird. Nur dann kann auch Neues nachhaltig entstehen.
Wie eine Unterstützung dafür aussehen kann: Neben dem Willen zur Veränderung steigern wiederkehrende Perspektivwechsel, ein gemeinsamer Sprachgebrauch und die Berücksichtigung unterschiedlicher Lernvorlieben die Qualität einer Transformation. Notwendige Rahmenbedingung für die Weiterentwicklung einer unternehmerischen Biosphäre sind ein gemeinsames Verständnis für Privilegien, wie sie der Wirtschaftlichkeit, der Geborgenheit, der Sinngebung, der Kulturpflege und der Identitätsstiftung dienen. Gesteuert wird dies durch verantwortungsvolle (Selbst-)Führung, Authentizität und Unvoreingenommenheit. Es bedarf somit einer gemeinschaftlichen Bereitschaft, sich und den Status Quo zu hinterfragen, wiederkehrend die Privilegien zu würdigen, zu ordnen, zu ergänzen und/oder zu streichen.
Andreas Jobmann Coaching & Training
Facilitating – Coaching – Produktmanagement
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