Auf die Spitze getrieben
Führungskräfte eines Kunden der school of facilitating berichten von einem kulturellen Phänomen, das ihnen in ihrer Organisation zunehmend begegnet: Sie werden stark mit den persönlichen Befindlichkeiten der Mitarbeitenden konfrontiert.
Immer wieder äußern Teammitglieder in klagendem Tonfall Anliegen wie
- den langen Weg zwischen Kita und Arbeit,
- die Unmöglichkeit, an Teamsitzungen teilzunehmen, da dies mit einer Teilzeitstelle und dem Arbeitsweg einfach nicht machbar sei,
- das Fehlen der Führungskraft an Homeoffice-Tagen:„Du hast sehr gefehlt, ich hätte dich gebraucht.“
- den Vorwurf, „dass es immer um Leistung gehen muss“, während zugleich kein eigener Beitrag zu Meilensteinen im Team genannt werden könne,
- die angeblich nicht zu schaffende Arbeitsmenge in einer vorgegebenen Zeit.
Als eine Führungskraft beginnt, von konkreten Beispielen zu erzählen, wird schnell deutlich, dass auch alle anderen eine Vielzahl solcher Geschichten beitragen können. Die Führungskräfte erschöpfen sich zunehmend daran, auf individuelle Befindlichkeiten einzugehen und nach Lösungen zu suchen. Doch es scheint ein unstillbarer Hunger zu sein – ein Prozess, der sie auslaugt und auch wütend macht. Es hat sich ein kulturelles Muster etabliert, das auf die Spitze getrieben wird, ohne einen ausgleichenden Gegenpol zu erfahren.
Abbildung 1: Wie stütze ich in der Rolle der Führungskraft dieses „Drama“?
Ein unbewusst gefördertes Muster
Das erste Resümee der Diskussion: Diese Muster hat sich über die letzten sechs Jahre in der Organisation verfestigt – seinerzeit vielleicht aus guten Gründen. Doch inzwischen verhindert es eine Weiterentwicklung. Selbstkritisch wurde den Führungskräften klar, dass sie mit ihrem eigenen Verhalten diese ungewollte Ausprägung der Kultur stützen.
Abbildung 2: Beispiele, wie eine Führungskraft diese Kultur stützt, obwohl sie sie nicht haben will
Die einen verstärken das Muster durch Überfürsorglichkeit, die anderen dadurch, dass sie Konflikte nicht ansprechen. Doch was kann getan werden, um ein Gleichgewicht herzustellen?
Abbildung 3: Was können ergänzende Pole sein, um das Ungleichgewicht auszubalancieren?
Balance durch Sachlichkeit und Klarheit der Rollen
In der Anlayse zeigt sich: Zwei ergänzende Pole können helfen, das Ungleichgewicht auszubalancieren.
- Sachlichkeit (rechts oben im Dreieck)
Wenn eine Mitarbeiterin über zu wenig Zeit klagt, kann eine Priorisierung helfen – entweder durch sie selbst oder mit Unterstützung der Führungskraft. Wenn ein Mitarbeiter den langen Arbeitsweg beklagt, kann nachgefragt werden: „Worum geht es dir eigentlich? Was erwartest Du von mir?“ Anstatt sich emotional mitziehen zu lassen und in Mitleid zu verfallen, sollte eine sachliche Klärung auf der Erwachsenenebene erfolgen.
- Die professionelle Rolle (links im Dreieck)
Führungskräfte und Mitarbeitende nehmen professionelle Rollen innerhalb der Organisation ein.
Abbildung 4: Die Interessen beider Seiten und der auszuhandelnde Raum, wo sie sich treffen
Die Abbildung 4 zeigt die Interessen beider Seiten:
- Ganz rechts außen wäre ein egozentrisches und narzisstischen Verhalten eines Einzelnen einzuordnen.
- Ganz links außen ein rein ergebnisgetriebenes, leistungsorientiertes Denken und Handeln der Organsiation.
- In der Mitte – im gestrichelten Bereich – findet eine Aushandlung legitimer Interessen in der jeweiligen professionellen Rolle statt. Hierfür ist Rollenklarheit essenziell.
Ein Beispiel:
Führungskraft Carla Müller kann als Privatperson nachvollziehen, dass ihr Mitarbeiter Fred durch seine familiäre und berufliche Situation stark belastet ist. Doch in ihrer professionellen Rolle als Führungskraft darf sie nicht in Überfürsorglichkeit verfallen. Sie muss den Mut haben, sich unbeliebt zu machen und Fred als Erwachsenen in seiner professionellen Rolle zu führen – im Einklang mit den Interessen der Organisation.
Von der Spitze auf den Boden kommen
Wenn Führungskräfte ihre individuellen „Stützpfeiler“ erkennen und abbauen, kann das überreizte System ins Gleichgewicht kommen. Das Dreieck kippt von der Spitze auf den Boden und erhält eine zweite stabile Basis.
Abbildung 5: Was können ergänzende Pole sein, um das Ungleichgewicht auszubalancieren?
In Abbildung 5 ist zu sehen, wie Sachlichkeit neben Befindlichkeit für eine Erdung sorgt – ein gesundes Spannungsfeld entsteht. Mithilfe eines Steuerelements (siehe Abbildung 6) kann situationsbedingt zwischen den Polen reguliert werden. So entsteht eine tragfähige Balance zwischen Empathie und Professionalität.
Abbildung 6: Befindlichkeiten und Versachlichung ins Gleichgewicht bringen
Zu einem guten Schuss gehört ein Stück Reflexion. Deswegen laden wir Euch an dieser Stelle herzlich ein, Euch schreibend Gedanken zu machen oder die Fragen im Team gemeinsam zu reflektieren:
- Wie sind die im Artikel genannten Spannungsfelder bei uns ausbalanciert?
- Mit welchem Verhalten stütze ich einen „auf die Spitze getriebenen“ Anteil?
- Welche anderen Muster nehme ich in meiner Organisation/in meinem Team wahr, die überhand nehmen (Spitze des Dreiecks unten)?
- Was wären ausgleichende Gegenpole (rechte und linke obere Ecke des Dreiecks)?
- Welche guten Gründe hat es, dass sich dieses Phänomen ausgebildet hat?
- Durch welches Verhalten stütze ich die Dramatisierung?
- Wie baue ich meine Stützpfeiler nach und nach ab? Was heißt das konkret für mein Verhalten?